Doppelte Ahnen und die mehrfache Schleife der Grazie
Zu den Kleinplastiken von Ralph Kull

I.
Die eigentlichen Ahnen jener eigentümlichen bronzenen Wesen, die Ralph Kull seit 1994 immer wieder zum Leben erweckt (und uns zu unserer ersten Überraschung vollkommen seriös im konzeptionellen Rahmen seiner sonstigen Arbeiten präsentierte) stehen in den berühmten Porzellansammlungen dieser Welt.
Johann Joachim Kaendler, seit 1973 Modellmeister an der Meißner Manufaktur des „weißen Goldes“, schuf ab 1742 für die Tafeln und Interieurs des Wettiner Hofes in über 1000, oft zu szenischen Gruppen zusammengefassten Stücken jenen galanten Typus figürlicher Kleinplastik, der vielleicht mehr als alle Schlösser und Palais zum Inbegriff des Rokoko-Zeitalters geworden ist. Diesseitig heiter und allwegs elegant geht es in diesem Welttheater zu, das nicht nur den zerstreuungssüchtigen Alltag des Hofes (Jagd- , Tanz- und Musikszenen) fasst, sondern sich auch insbesondere die Exotika (Menschen und Sitten fremder Völker und Tiere) der damaligen Zeiten in buntbemaltem Porzellanglanz anverwandelt.

II.
Die realen Ausgangstücke der paarigen Kleinplastiken „Zwei Asiaten“, „Kind und Hund“ sowie „Mann Frau“ sind hingegen den sentimentalen Lagern der Nippesläden entnommen, wo die technische Konsequenz von Kaendlers Gussverfahren zu wahrhaft eigenem Recht geführt wird: hier gibt es – aus großen 1000er-Auflagen – die spottbillige Kleinplastik für jedermann! Das auratische, hochartifizielle Kunst-Stück vervielfältigt sich in eine buntgefleckte Armee grober anonymer Kopien.
Deren Serienvertreter fanden und finden zielsicher ihren Weg auf die Regale und Fensterbretter privater Wohnzimmer. Es mag die ursächliche Motivation jeder Kopie sein in der Figur des Zitats zugleich und noch Anteil an der Aura eines Originals zu haben, über das man aus diversen Gründen nicht verfügen kann. Für die Rokoko-Schablonen der Billigkeramik scheint es sich jedoch schon lange anders zu verhalten: sie waren schon seit Generationen feste Bestandteile einer alltäglich-(klein)-bürgerlichen Wohnästhetik. Deren eigentlich heterogenen Ensembles haben sich manche Stilzitate aus anderen gesellschaftlichen oder geografischen Sphären derart einverleibt, dass diese darin als typische vollkommen aufgehen und ihre Differenz als Zitat kaum mehr eine Rolle spielt. Das verbindet den „Röhrenden Hirschen“ mit der „Kaktussammlung“, die Stilmöbel des „Gelsenkirchener Barock“ mit der „Orientbrücke“. Und hier ist auch der eigentliche Ort der lächelnden Rokoko-Figurinen.

III.
Die Skulpturen von Ralph Kull erscheinen im ersten Eindruck als klassische, d. h. auch figurative Bronzeskulpturen, artifizielle Stücke aus einem alten und teuren Bildhauermaterial, dessen besondere sinnliche Qualitäten und Reize- Schmelz, Glanz und warm-goldiges Leuchten – uns auch hier begegnen.
Zugleich erinnern die handlichen Doppelstücke nur im ersten Erfassen der Silhouette aus der Ferne, wenn sie wieder auf dem Schreibtisch oder Fensterbrett zu stehen kommen, erstaunlich deutlich an ihre Rokoko-Ahnen. Doch schlagartig merkt man, dass hier nichts mehr „stimmt“: die Figurinen haben ihr Lächeln verloren, schauen blicklos wie aus verätzten Gesichtern, die Köpfe sind teigige flächige Klumpen, fast ganz ohne Nasen, Münder. Sowohl den „Asiaten“ wie „Mann Frau“ fehlen die Arme, nur Stümpfe stehen von den Körpern ab. Die grotesk dünne Wespentaille der Frau ist nicht nur im Körper verrutscht, sie hält den Oberleib wie ein Puppenoberteil auf der Stange. „Kind und Hund“ sind kaum als zwei getrennte Wesen vorstellbar, sie sind schlicht zusammengeschmolzen wie manch Lebiges im Inferno Pompejis.
Was also ist passiert? Haben wir absichtliche Produkte eines klassisch-modernen Stilwillens vor uns, der dem Phänomen der Reduktion nachgeht und damit einem längst abgeschlossenen Projekt huldigt? Welch destruktiver Geist tauschte die Aura und Gesten der Grazie, die wir immer noch erinnern, in die ambivalente Attraktion der gesichtslosen Krüppel?

IV.
„Zwei Asiaten“, „Kind und Hund“ sowie „Mann Frau“ sind Ergebnisse eines klaren skulpturalen Prozesses in der Figur der (mehrfachen) Travestie. Ralph Kull verwandelt Stellvertreter einer Massenware, die als billige „re-makes“ Kunstwerke des 17. Jahrhunderts imitieren, durch den traditionellen Bronzeguß zu skulpturalen Unikaten. Das geschieht mittels der Technik der verlorenen Form im doppelten Sinne. So wie Porzellan gebrannt werden muß, geht auch die künstlerische Weiterbearbeitung erneut ins (mythologische) Feuer. Ausgerechnet das Ungestaltete und Verborgene, das hohle Innere der Nippesfigur wird als Gussform benutzt. Um den Preis der Zerstörung des „schönen Äusseren“, das zugleich der Verlust der gesamten Porzellanfigur sein muß, wird es auf die Signifikanz seiner plastisch-figürlichen Information befragt, die es als funktionaler Rest zweifelsohne noch besitzt: das Original wird – als Kern – nur sichtbar, wenn die „äußerliche“ Hülle abgeschlagen wird.
Indem Kulls Bronzegüsse den billigen Doubletten aus dem Inneren individuelle Informationen förmlich herausbrennen, schließt er sie und das eigene Tun ausdrücklich und kritisch wieder an die Kunsttradition an, aus der sie letztlich entstammen. Sinnigerweise erfüllt das Material Bronze hier seine traditionelle Aufgabe einer materialrhetorischen Nobilitierung ganz konsequent und „adelt“ dabei das Ergebnis einer (produktiven) Destruktion. Allein materialiter schon trifft Kulls Wort von der „Umwertung“.

V.
Das Faszinierende der Arbeiten liegt jedoch in ihrer plastisch-inversiven Intelligenz und künstlerischen Ökonomie. Kull selbst legt keine gestalterische Hand an, er installiert nur, transparente Prozesse, indem er einer bereits vollständig vorhandenen Skulptur mit einer andere, älteren bildhauerischen Technik zu Leibe rückt und dabei Materiale tauscht. Wir können an den Bronzefigurinen gerade noch ihren Status als „remake des remakes“ ablesen, ebenso – aber umso deutlicher – das Vorschleifen plastischer Formen, das immer eine bedeutsame Veränderung von Information ist. Hier hat allein das anonyme skulpturale Crossover den Ausdruckswert der Skulpturen vollständig mutiert: Rokoko goes Expressionism!
Dabei liegt der Kern der kernhaften Skulpturen eben nicht in einer erneuten Veräußerlichung ihres nach außen gestülpten Inneren – auch wenn sie zu Recht diesem ästhetischen Schicksal nicht entkommen werden – sondern vielmehr im Anstoß zu einer äußerst komplexen und vorurteilslosen Reflexion von ästhetischer Praxis und Tradition. Insofern könnte man bei Kulls Kleinplastiken auch von rhetorischen Skulpturen reden, was sie noch als bronzenen Bastarde mit ihren gestenreichen Ahnen verbindet.

Rolf Bier
Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
Katalogtext zur Ausstellung der 8. Triennale Kleinplastik / Fellbach, Feb. 2001