Temporäre Horizonte – Bert Haffke / Ralph Kull

Plinius der Ältere (23/24 n. Chr. bis 79 n. Chr.) berichtet in seiner Historia Naturalis über den künstlerischen Wettstreit von Zeuxis und Parrhasius. Während es Zeuxis gelang, Weintrauben so naturgetreu zu malen, dass Vögel an ihnen zu picken versuchten, stellte Parrhasius ein Gemälde her, das scheinbar von einem Vorhang verdeckt wurde. Die Bitte von Zeuxis, diesen beiseite zu schieben, machte Parrhasius zum Gewinner des Wettstreits, denn der Vorhang war ebenfalls gemalt.
Die Frage nach der perfekten Augentäu­schung steht in der zeitgenössischen Kunst nicht mehr im Vordergrund, wird die naturgetreue Wiedergabe der Außenwelt inzwischen meist von technischen Medien übernommen. Wichtiger ist hingegen die Frage nach der Wahrnehmung visueller Eindrücke an sich geworden, zum einen weil die Anzahl medialer Bilder den Alltag in einer kaum fassbaren Weise bestimmt. Zum anderen trifft jedes vom Menschen neu erfasste Bild auf die im Gehirn gespeicherte Erinnerung vorher gesehener Bilder und damit wird die Wahrnehmung stets von individuellen Erfahrungen beeinflußt.
Bert Haffke und Ralph Kull thematisieren die Frage nach der Wahrnehmung von Kunst, gerade auch im Kontext bereits tradierter Bildgestaltungen und Symbole, in ihren Werken. Beide Künstler arbeiten unabhängig voneinander, treffen sich in unregelmäßigen Abständen aber zu gemeinsamen Ausstellungsprojekten, nicht um einen Wettstreit miteinander zu führen, sondern um mit ihren Arbeiten in einen Dialog zu treten. Dabei wird die Bedeutung von Form und Farbe, Motiv und Material für die Bildwirkung untersucht sowie der Ausstellungsraum einbezogen, für den konkrete Werke geschaffen werden.

Die Arbeiten von Ralph Kull entsprechen auf dem ersten Blick eher dem klassischen Kanon der Kunstgeschichte, nutzt er doch das tradierte Medium der Malerei, teils in monumentalem Format. Doch dieser erste Eindruck ändert sich bei der näheren Betrachtung.

Das Werk Szene (fRR), 2022, misst 135 x 270 x 8 cm und zeigt den Ausschnitt eines Waldinneren mit drei mächtigen Baumstämmen, die sich von der Mitte aus in die linke Bildhälfte verteilen. Dort ist der Bewuchs am dichtesten und daher die Dunkelheit am größten, während in der rechten Bildhälfte der Blick in die Tiefe, aber hellere Zone des Waldes führt. Erinnert die Landschaft selbst an ein romantisches Gemälde, steht die Bildgröße im Widerspruch zu den intimen Formaten der Romantik. Noch irritierender ist die Unterbrechung des Motivs durch den von einem goldenen Rahmen gefassten Spiegel, der in der rechten Bildhälfte wie an einer Wand hängt. Er bietet dem Betrachtenden die Möglichkeit sich selbst beim Betrachten des Gemäldes zu sehen. Eine solche Selbstbespiegelung könnte als Hinweis auf die Eitelkeit verstanden werden, die im Kunstkontext häufig mit einem Spiegel allegorisch dargestellt wurde. Der goldene Rahmen verstärkt den Eindruck des Kostbaren, während das Gemälde selbst ungerahmt bleibt. Doch kann der Spiegel ebenso ein Hinweis auf den Wahrnehmungsprozess sein, bei dem die eigene Erfahrung stets einfließt. So beinhaltet die Betrachtung eines Bildgegenstandes immer ein Stück Selbstbetrachtung, ohne dass dies zwangsläufig ins Bewußtsein rückt.
Wenn reale Objekte in Gemälde eingefügt sind, stellt dies jeweils eine Unterbrechung der Bildillusion her. Das Werk TV (Aurore), 2020, zeigt im oberen Bilddrittel ausschnitthaft wie bei einem Blick aus einem dunklen Raum durch ein Fenster einen Sonnenaufgang. Das tradierte Motiv wird durch die mit einem Klebeband ins Bild gesetzten Buchstaben TV allerdings in einen anderen Kontext gestellt. Es wird einerseits auf ein mediales Bild verwiesen, andererseits nehmen sowohl gemaltes wie mediales Bild Bezug auf einen Naturvorgang. Doch lassen sich die unterschiedlichen realen wie medialen Seherfahrungen überhaupt entkoppeln oder mischen sich die Erinnerungen bei der Betrachtung von Sonnenauf- bzw. untergängen nicht automatisch? Der Hinweis auf das Fernsehen verändert die Betrachtung des gemalten Sonnenaufgangs ebenso wie das Wissen, dass Caspar David Friedrich seine Gemälde im Atelier komponiert und nicht in der Natur gemalt hat, auf deren Rezeption Einfluss hat.
Diese Schnittstelle zwischen dem Bildmotiv und dem Bezug zu anderen Bildern bzw. realen Objekten ist ein zentrales Thema im Werk von Ralph Kull. In der Arbeit die Summe der Scherben, 2021 wird ein realer Alltagsgegenstand in Form eines hölzernen Stuhls einbezogen. Er liegt auf seiner Rückenlehne neben der Wand, auf der verlaufene rote Farbspuren zu sehen sind. Die Verwendung eines Stuhls erinnert an das Werk One and three Chairs, 1965, des amerikanischen Künstlers Joseph Kosuth, das als Schlüsselwerk der Konzept­kunst gilt. Es thematisiert anhand eines realen Stuhls, eines Fotos des Stuhls und dem schriftlichen Eintrag im Lexikon zum Thema Stuhl das Verhältnis von Wort, Bild und Objekt. Bei der Arbeit von Ralph Kull liegt der Stuhl auf dem Rücken, in dieser Position verliert er vorübergehend seine Funktion als Sitzmöbel. Ob diese Position auf eine vorherige Aktion zurückzuführen ist, wie auch die roten Farbspuren, die entfernt an Actionpainiting erinnern, wäre genauso möglich wie eine sorgfältige Inszenierung. Joseph Kosuth intendierte mit seiner Konzeptkunst die Sichtbarmachung von Denkprozessen mit künstlerischen Mitteln. Ob hier auf eine mögliche Überfrachtung des Kunstwerks durch Deutungskonzepte hingewiesen wird, oder wie bei Arbeiten des österreichischen Künstlers Erwin Wurm eher zu einer neuen Wahrnehmungsposition aufgefordert wird, bleibt offen. Die Wahrnehmung des Werkes selbst wie auch dessen Entstehung kann unschwer frei von kunsthistorischen Bezügen erfolgen. Was intendiert ist und was bei der Betrachtung interpretiert wird, muß jedoch nicht deckungsgleich sein.
Beim Werk reine Philosophie, 2021, ist der Bezug zur eingangs erwähnten Schilderung von Plinius aufgrund des Motivs des Vorhangs gegeben. Eine abstrakte Landschaft, die aufgrund der dunklen Farben wie eine nächtliche Szene wirkt, bildet das Motiv des 180 x 260 cm großen Gemäldes. Im Kontrast zum gestisch gemalten Hintergrund erscheint in der rechten Bildhälfte ein illusionistisch dargestellter weißer, durchsichtiger Vorhang, der an einer sichtbar gemalten Schnur hängt. Diese malerische Setzung erfährt durch den Klebestreifen, der in der linken Bildhälfte quer über das Bild läuft, eine weitere Unterbrechung. Die gemalte Augentäuschung wurde mit der Collage zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch eingeklebtes Material verändert und die künstlerischen Mittel erweitert. Doch erhöhte sich dadurch nicht die illusionistische Wirkung des Kunstwerks, vielmehr wurde ein anderer Bezug zum Alltag hergestellt.

In der gemeinsamen Arbeit mit dem Titel temporärer Horizont auf der Bühne der Städtischen Galerie Lehrte treten die Fragestellungen und die Ausdrucksmedien beider Künstler in einen direkten Dialog. Das Gemälde von Ralph Kull nimmt erneut das Thema des Vorhangs auf, der als realer schwarzer Bühnenvorhang dort hängt und nun ein zweites Mal als gemaltes Bild erscheint. Ein Klebestreifen unterbricht auch hier die Bildfläche und entwickelt auf dem Schwarz des Gemäldes und Vorhangs eine graphische Wirkung, die das Kontinuum der Wahrnehmung unterbricht. Hinzu tritt der rote Farbguss auf dem schwarzen Bühnenboden und der kleine Mondglobus, der auf der Bühne wie in einem Nachthimmel leuchtet.
Die unterschiedlichen Medien von Malerei, Material, Objekt und Licht treten im Kontext des konkreten Raums auf, ohne eine direkte physische Verbindung einzugehen. Sie bleiben unabhängig, erzeugen aber einen gemeinsamen visuellen Eindruck. So einfach die Komponenten schwarz, rot und weiß sowie Linie, Fläche und Körper zunächst erscheinen, sie bilden ein komplexes Werk, in dem verschiedene Wahrnehmungsebenen angesprochen, aber auch gebrochen werden. Zum einen wird die Imitation der Wirklichkeit im Gemälde par excellence erfüllt, jedoch verbirgt der ‚Vorhang‘ in diesem Werk nichts als einen Vorhang. Zum anderen werden konstruktivistische Stilelemente in einer räumlichen Arbeit neu eingesetzt.
Das Schaffen von Verbindungen zwischen den Elementen ist die Arbeit, die beim Betrachten geleistet werden muß. Dabei bleibt es gerade dem Kunstwerk vorbehalten, keinen eindeutigen Zusammenhang vorzugeben, sondern konkrete Erfahrungen als offenen Prozess ins Bewußtsein zu rücken. Diese ‚temporären Horizonte‘, die in den Werken von Bert Haffke und Ralph Kull eröffnet werden, richten den Blick auf eine Neue Welt, deren Entdeckung in der Betrachtung selbst liegt und weniger in die Ferne, denn in die Tiefe des Erkennens führt.

Julienne Franke
Städtische Galerie Lehrte
Text zur Publikation der Ausstellung, Jan 2023