Wenn ein Künstler in einer Ausstellung an eine große weiße Wand mit Riesenbuchstaben den Satz schreibt: ICH BIN GOTT, dann ist er entweder verrückt oder größenwahnsinnig, vielleicht auch zynisch, oder aber er hat etwas anderes und unerwartetes im Sinne und stellt den Betrachter/Leser womöglich ein Falle, in die man leicht hineinfällt. Also, sein wir vorsichtig!
Ich kenne den Künstler Ralph Kull; ich weiß, daß er weder zum Wahnsinn neigt, noch gar Anstalten zur Selbstüberschätzung macht, und auch die Methode der zynischen Distanzierung habe ich an ihm glücklicherweise noch nicht feststellen können. Also muß eine Motivation für diesen sowohl anspruchsvollen, als auch Mißverständnisse, ja Aggression geradezu herausfordernden Satz eine andere, eine vorerst nicht offensichtliche sein.
Ein Künstler, am Ende eines Jahrhunderts der Moderne arbeitend, ein Künstler, dem es aufgrund seines Alters möglich ist, dieses Jahrhundert der Innovationen, der ständigen „Verbesserungen des 20. Jahrhunderts“, der Überwindungen des Neuen durch das Neueste, zu überblicken, ein solcher Künstler muß entweder überheblich sein, wenn er glaubt, daß er diesem Neuen noch ein im positiven Sinne Allerneuestes hinzufügen kann, oder aber versuchen, sich seiner selbst zu besinnen und die Position eines Quereinsteigers einnehmen, der sich des vorhandenen Formvorrates und der aufgehäuften Motivationen vergewissert und diese als Steinbruch für seine Arbeit verwendet. Ralph Kull steht dieser – man könnte es je nach Betrachtungspunkt – verzweifelten oder aber unbelasteten Position nennen – nicht alleine. Eine ganze Generation junger Künstler ist auf der Suche nach einem anderen Weg der Selbst- und damit Werkdarstellung und versucht sich von Zynismen freizuhalten.
Kull sucht vielleicht Gott, sicherlich nicht dort, wo er gemeinhin als beheimatet angesehen wird, in der Kirche. Dort ist er längst unter den Ritualen der ihn verwaltenden Organisationen verschwunden, oder fast bis zur Unkenntlichkeit verdeckt, sondern an Orten der Kunst, als „Hilferuf“ an der Wand der Ausstellungshalle; ein Hilferuf nach innen womöglich, ohne aber die heimeligen Romantizismen der Innerlichkeit zu bemühen, ein Ruf, der sich hinter dem ebenso demonstrativen wie auch banalen Image der Werbewand verbirgt: “ Wer immer Du bist, falls es Dich gibt, der das Ganze zusammenhält,, obwohl alles auseinanderstrebt, dann offenbare Dich mir an unerwartetem Ort, vielleicht im Lesen meiner Behauptung, daß ICH der sei, den ich suche?“ Aber zugleich bleibt, fast möchte man sagen: „natürlich“ der Zweifel, ja die fast bis zur Gewißheit gesteigerte Erkenntnis: „Es gibt Dich nicht, es sei denn, ICH BIN GOTT.

Da ist keiner außer mir, der mir aus der Bredouille hilft. Wenn einer verantwortlich ist, dann ICH“.
Viele Wege können zu einen vorerst (?) unbekannten Ziel führen: Ralph Kull muß man einen Künstler ohne Stil nennen, ja er ist ein Künstler, der jeden Anklang an Stil oder Handschrift, die zum Markenzeichen werden Könnte, zu vermeiden sucht: er tritt in unterschiedlichster Gestalt auf, auch als Maler gibt er vor zu malen, der die Farben seiner großformatigen „Fototapeten-Blder“ im immer gleichen Stempelblau aus zahlreichen Stempelungen mit ihren wörtlichen Beziehungen zusammengesetzt, so daß sich aus der Schrift/Sprache ein Bild von hoher malerischer Qualität aufbaut, dessen Farbigkeit wir allerdings nur lesend erfahren können und imaginieren müssem, nicht aber sehen können. In der verkleinerten Reproduktion, wie auch im fernen Blick auf das Bild, fügt sich zusammen, was zusammengehört, aus tausenden von Begriffen wird ein Ganzes, die ganz banale Schönheit einer Fototapete. Ralph Kull macht ein Bild vom Bilde, oder von dessen auf den kleinbürgerlichen Geschmack gekommenen Derivat aus der traditionellen Landschaftsmalerei, aus der noch so ein kleiner Rest von dem Anspruch „Kunst“ hervorscheint, echter und „ehrlicher“, weil fotografiert.
Die Distanz des Gottsuchers wird hierin zu einer Distanz zum – so scheint es, obsolet gewordenen – traditionellen Kunstbegriff, wobei zu gleich auch das Verlangen nach Gott, als dem Ausdruck für Gegenwelt ausdrücklich im Kunstwerk manifestiert wird, dies Versprechen aber nicht mehr einlöst, ja nicht mehr einlösen kann. Ralph Kull scheint sich dieses Zwiespalts bewußt zu sein, aber er lebt mit ihm, vielleicht könnte man auch sagen: er überlebt mit ihm. Ralph Kull bewegt sich in dem schwierigen Grenzgebiet zwischen Traum nach Vollendung (Gottwerdung) und der Erkenntnis, daß alles, was ein Künstler je erreichen kann, ist, die Frage richtig zu stellen, nicht aber die Antwort geben zu können – und das scheint mir schon eine ganze Menge zu sein!

Prof. Dr. Thomas Deecke
ehemaliger Direktor des Neuen Museum Weserburg Bremen
Katalogtext zur Ausstellungsreihe Junge Kunst aus Niedersachsen, Feb. 1994