Der Zustand der Kunst um 1980 ist als Ende eines festen Glaubens an ein nach mathematischer Logik, nach dem absolut konstruierten System, als Verzicht auf Beweisbarkeit, auf die Homogenität im Denken, zu sehen.
Dagegen stand der Bruch des erzwungenen Zusammenhangs, die Entdeckung der Heterogenität der Dinge, Auflösung des Zusammenhangs in der Fragmentierung. Nicht die Summe, das Gemeinsame, sondern die Bestandteile, die Einzelnheit in den Blick zu nehmen wurde zum Dogma, weil ‚das System‘ mit einem mal unter Generalverdacht stand, über den Zusammenhang das Einzelne zu vergewaltigen. Begriffe wie ‚Wahrheit‘ oder ‚Moral‘ wurden abgeschafft, in dem sie als ‚Geschichten‘ über diese Gedanken relativiert wurden. Die Welt war nur noch ein Aggregat von verschiedenen Aussagen über sie und die Aussagen standen als Aussagen einander gegenüber nur noch im Verhältnis einer ‚Differenz’.
Das Ergebnis war ein hemmungsloser Sophismus, der am Ende die einheitsgebundene Form des menschlichen Geistes, die Einheit des Bewusstseins mit seinem Vermögen zur Abstraktion, d. h. Einzelnes im Allgemeinen, wie das Allgemeine im Einzelnen erkenn zu können, vergaß. Auch hatte man nicht bemerkt, wie man mit dem Kampf gegen das System ein neues errichtet hatte – eine Demontage mit System.
Botho Strauß lässt im Theaterstück ‚Kalldewey Farce‘ das Satzfragment fallen: „Die Grabbelkiste, welche Seele heißt“, das war 1981 auch der Zustand der Kunst, als Grabbelkiste, welche Kunst hieß. Als die Avantgarden am Punkte angekommen waren, von dem aus keine Steigerung mehr möglich schien – weil sie sich als linearen Prozeß fortschreitender Radikalität oder Konsequenz begriffen (‚banaler‘ oder monochromer konnte man nicht werden) kam es zum postmodernen Befreiungsschlag gegen diese Linearität: Alles war so modern wie unmodern, es gab nur noch Aktualität, also Jetzt. Wilde Malerei war auch wildes Umspringen mit allen Formen wie Inhalten; es war die Negation aller Hierarchien wie Qualitäten und Konzepte ‚angesagt‘. Als sich der Aufruhr gelegt hatte, begann sich die Praxis wieder der Theorie zu bemächtigen und man erkannte wieder einmal, dass das Bild die Klärung des Denkens ist.
Für Ralph Kull zerfiel die Welt damals in Bruchstücke, ein einheitlicher Bildraum, nur aus einer Perspektive heraus, als eine geschlossene Einheit war nicht mehr möglich für ihn. Alles war unter Verdacht geraten, unecht oder unwesentlich zu sein, aber auch das Wesen hatte sich als etwas nicht Greifbares verflüchtigt.
Ralph Kull ist sich der Gefahr dieser Einsicht wie auch Haltung wohl bewußt und bearbeitet sie mit seinen Mitteln, genau so, wie er gegen sie anarbeitet. Die ironische Distanz, die permanente ‚als ob‘-Haltung, die Surrogate einer Utopie, die dann wieder in ein ‚als-ob‘ zerfallen, erzwingen eine Neufindung, eine Orientierung. Die Sache kehrt sich um: Zur Dekonstruktion der Haltlosigkeit als Rekonstruktion der Möglichkeit von Halt.
Die Erkenntnis, dass alle Philosophie nur provisorisch ist (Heidegger), aber als Provisorisches kein Provisorium ist, dass sie ‚Quer zur Zeit‘ (Jaspers) steht, also weder mit der Zeit läuft oder sich als Opposition gegen den ‚Zeitgeist‘ erschöpft, sondern die Zeitlichkeit überwindet, lässt sich auf die Kunst übertragen. Diese ist zwar keine Philosophie, aber praktiziert philosophisches Denken mit ihren materialen Mitteln.

Die Zeichnung ist für Ralph Kull die geistige Alchemisten-Küche, das Labor in dem die ‚letzten Fragen‘, das Eschatologische, verhandelt wird. Die Fragen, die sich der Mensch im Ringen mit sich selbst als Zeugnis von seinem Verhältnis zur Welt stellt, sind das große Thema, das provisorisch – also unabgeschlossen bleiben muss. Hegel beginnt das Kapitel des Geistes mit dem Satz, der Programm aller Reflexion ist: „Die Vernunft ist Geist, in dem die Gewissheit, alle Realität zu sein, zur Wahrheit erhoben, und sie sich ihrer Selbst als ihrer Welt und der Welt als ihrer Selbst bewusst ist“ [der Außenblick wir zum Innenblick]. Hier geht es nicht um Rechthaberei, oder darum, auf der ‚richtigen’ Seite zu stehen, sondern um die wirkliche Reflexion über sich selbst, aus der Fülle der Erfahrung mit dem Denken, das hier schon das Resultat von bearbeitetem Wissen ist, alle einzelnen Fakten schon hinter sich gelassen hat, um Erkenntnis zu werden.
Man hat den Idealismus fälschlich seiner Ideale verdächtigt. Er sah sich gleichzeitig immer auch als Realismus und erkannte die bittere Kluft zwischen Sollen und Sein.
Aber in der Form setzte dann mit Nietzsches Hang zum Fragmentarischen, zum Aphorismus, mit Metapher und Wortspiel bis zur Dichtung eine Art des Philosophierens ein, die verwandt ist mit der Haltung von Ralph Kull dem Bild gegenüber. Es geht um Demontage wie auch Neuordnung, um Umwertung [aller Werte] wie verwandeln und vor allem, um die augen-sinnliche Lust, den Reiz, das Reizvolle, das noch vor dem Konzept steht. Die Vielfalt der Welt, die Vielfalt der Empfindungen wie der Erlebnisse der Formen der Erscheinungen äußern sich in kleineren Serien von Zeichnungen, genauso wie sie auch Phasen im Entstehen einer einzelnen Arbeit sind. Es ist ein ständiges Changieren zwischen den künstlerischen Ursprüngen, den Herkünften der Formen. Vieles wird verworfen – aus dem Zweifel an der Aussage, wie aus einem traditionellen Qualitätsanspruch heraus.
Ein Gedicht von Ralph Kull scheint diese Ausstellung, ihrer dezidierte Offenheit gut zu treffen als wahres Unterwegs-Sein voll Ironie:

sich drehen
in der Bahn
Zug um Zug
stille stehen
Wahl
Fisch
Fetzen wehen
zuhauf
leichtes Dekor schmückt die Wand

Giso Westing
Künstler und Kurator, Hannover
Eröffnungsrede zur Ausstellung und auch de Bäume – Zeichnungen
Haus am Wasser, Bremen-Vegesack, Nov. 2018